Der Weg in die Stille – Ein Sohn begleitet seinen dementen Vater in den letzten Jahren des Lebens

Geschrieben am 11. März 2014 von Paul-Josef Raue in Bücher, Tagebuch.

Bernd Eichmann: Vatter baut ab. Eine Geschichte von Demenz und Liebe. Gütersloher Verlagshaus, 192 Seiten, 17.99 Euro 

Wann hören wir auf zu leben? Wenn Ärzte die Apparate abstellen? Wenn der Totenschein ausgestellt wird? Oder schon viel früher: Wenn die Erinnerung in einem Nebel verschwindet? Wenn wir Menschen, die wir lieben, bisweilen nicht mehr erkennen? Wenn wir die Kontrolle über unseren Körper verlieren?
 
Wann beginnen wir zu sterben? Wir streiten uns  oft unbarmherzig über den Zeitpunkt des Todes,  die Organspende, über die Sterbehilfe mittels eines Schirlingbechers – und vergessen, dass sich die meisten Menschen  weniger dramatisch verabschieden: Langsam, milde, satt vom Leben. Und wir vergessen, dass die Zurückbleibenden meist mehr leiden als die Sterbenden.

Einer dieser Zurückbleibenden hat ein wunderbares Buch geschrieben über das fast drei Jahre währende Sterben seines Vaters. Dies Buch des Journalisten Bernd Eichmann ist ein Wunder, weil es dem Sterben seine Würde zurückgibt – als Teil unseres Lebens. Sterben ist kein Zeitpunkt, meist auch kein kurzer Prozess, sondern eine abenteuerliche Reise.

Es ist eine Reise zurück. Der Sohn fragt, den dementen Vater beobachtend: „Vielleicht ist der vernunftbegabte Mensch nur ein Unfall der Evolution und Alzheimer ein Korrektiv?“

Diese Frage, ja dieser „metaphysische Schauer“ kommt dem Sohn, als er sieht, wie sich der Vater mit einem Kater anfreundet:

Vatter, der als Kind einert gefühlskalten Mutter und einer gewalttätigen Zeit Zärtlichkeit nie kennenlernen durfte, streicht mit sanfter, vorsichtiger Hand dem Kater das sonnenwarme Fell. Ganz konzentriert, vertieft in das Du.

Bernd Eichmann nimmt sich Zeit für die beiden letzten Lebensjahre seines Vaters: Ist das  Sterben? Ist es noch Leben? Auf jeden Fall fällt dem Sohn der lange Abschied schwerer als dem Vater.

Er schreibt eine Art  Tagebuch, notiert und analysiert die Phasen – während der Vater einfach lebt. „Alles andere ist Gedankenmüll“, schreibt der Sohn.

Diagnose Alzheimer, fortgeschritten:
„Sie sollten es nehmen, wie es ist!“, sagt der Arzt. „Ein Mensch erlischt. So ist das Leben.“

Von der eigenen Wohnung ins Heim:
Ob es ihm hier nicht langweilig würde, fragt der Sohn. Er langweile sich nie, sagt der Vater, er denke nach. „Über sein Leben? Nein, über das, was er sieht“, sagt der Vater.

Umzug ins Haus des Sohns:
Vater dreht wieder allein seine Runde, verläuft sich, wird von der Polizei aufgegriffen. „Da mein Vater Zukunft nicht mehr denken kann und unmittelbar Vergangenes schnell vergisst, hat er nur Probleme mit der Gegenwart. Am liebsten wäre ihm die Wiederholung des ewig Gleichen.“

Die erste Ahnung vom Alt-Sein:
„Vatter muss die Dinge langam belichten, um sie wahrnehmen zu können. Alles Schnelle, Hektische fällt durch sein grobmaschiges Raster. Jüngere Hirne reagieren umgekehrt: Das Neue, Schnelle, Plötzliche nimmt die Aufmerksamkeit sofort gefangen. Ein lebenserhaltender Reflex: Es könnte etwas Gefährliches sein und eine sofortige Reaktion erfordern! … Ich habe zum ersten Mal eine Ahnung davon, was es heißt, alt zu sein. Und dement.“

Die Verzweiflung des Sohns: Er versteht den Vater nicht mehr, der die Klobürste in die Blumenvase steckt, er kann die Worte nicht mehr entschlüsseln. „Versuche verzweifelt, dem Sinnlosen einen Sinn zu geben, weil ich mich mit Vatters Krankheit nicht abfinden will. Denn wo kein Sinn mehr ist, beginnt die große Angst.“

Erinnerung an Buchenwald:
Der Vater war ein jüdischer Fabrikant, den die Nazis in Buchenwald internierten. Schwer traumatisiert kehrt der 23jährige nach dem Krieg zurück, fasst nur noch schwer Fuß und wird mit 53 mit einem „KZ-Syndrom“ berufsunfähig.

Das Bett:
Die  Welt wird kleiner. Durch ein großes Panoramafenster schaut er aus seinem Bett, an das er gefsselt ist,  ruhig auf die Welt. „Das ist das Geschenk seines hohen Alters: Die Gnade einer Welt hinter Glas.“ Er schaut noch auf seine Bücherwand, aber liest nicht mehr. In einem klaren Moment sagt er: „Wenn du alles getan hast, gehst du in die Stille.“

Der Sohn leidet – weil er den Vater nicht verstehen kann.

Der Grund für mein Schwächeln ist nicht mein biologisches Alter. Es ist meine geistige Disposition: Ich bin linkshirnig, verkopft und  neurotisch, eine sprachgesteuerte Intelligenzform, die Körpersignale nicht gewohnt ist.
Ich bin jederzeit bereit, Shakespeare-Sonette zu rezitieren, Kästnergedichte und Fabeln von Lafontaine. Natürlich komplett und in den Originalsprachen. Das Problem ist nur: Das hilft mir alles nicht. Denn Vatter kann man nicht auswendig lernen.

Mit einer Lungenentzündung kommt der Vater ins Krankenhaus, sagt zu seinem Sohn sanft „Du kannst jetzt gehen“ und stirbt wenig später. Allein.

MARKIERT (Leseprobe aus Eichmanns „Vatter baut ab“)

Der Augenmensch
Vatter ist darauf angewiesen, die Welt zu sehen. Alter und Krankheit haben ihn schwerhörig gemacht und ihm Geruch und Geschmack geraubt. Das Fühlen hat er sich schon im Arbeitslager der Nazis abgewöhnt; es war zu ungenau und damit zu gefährlich.

Vatter guckt nur, mit den Augen eines Falken. Liest in Gesichtern. Registriert jede Veränderung. Und weiß Bewegungen zu deuten. Auch das hat er als junger Zwangsarbeiter lernen müssen: Sein Überleben hing davon ab. Heute ist das anders: Was hinter der Panoramascheibe zu sehen ist, bedroht ihn nicht. Er darf der Welt zuschauen, ohne beteiligt oder betroffen zu sein. Das ist das Geschenk seines hohen Alters: die Gnade einer Welt hinter Glas.

Diesseits der Scheibe ist Vatter zu Hause: In seinem Zimmer, das er sehr ungern verlässt. Denn das Verlassen dieses Zimmers heißt verlassen werden, verlassen sein: in der Ambulanz, im Krankenhaus oder im Pflegeheim. Er hat sich eingesponnen in seinen vier Wänden. Betrachtet sie jeden Morgen, wenn das Licht angeht, mit unstillbarer Neugier. „Hier bin ich also!“, sagen seine Augen: „Hier ist es gut!“ Und deshalb lasse ich ihn erst einmal schauen, gönne ihm ein gutes Stündchen für sich alleine, bevor wir beide mit den Zwangsläufigkeiten des Alltags beginnen.

Vatter ist gerne allein. Schon früher wurde ihm menschliche Gesellschaft bald lästig: Sie hielt ihn ab von der Kontemplation. Er ist sich selbst genug, für eine lange Weile.

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