Jenny Erpenbeck und die späte zweite DDR-Generation: Die Wende als „radikaler Vorgang“

Geschrieben am 22. November 2015 von Paul-Josef Raue in Unvollendete Revolution.

Die Schriftstellerin Jenny Erpenbeck, Jahrgang 1967, schaut auf ein Foto ihrer Schule in Ostberlin, die abgerissen wird für einen Neubau mit Eigentumswohnungen:

Für mich spiegelt sich in den Trümmern ein radikaler Vorgang wider. Auf dem ganzen Gebiet der DDR wurden Dinge abgeschafft: Gesetze, Sitten, die Produkte aus dem Supermarkt. Ich habe keine Sehnsucht nach der Vergangenheit, aber die Erfahrung, dass man von einem Tag auf den anderen in einem anderen Land lebt, hat mich und meine Generation geprägt. Vielleicht rührt  daher die Angst mancher Leute, das Gefühl, man hat sich etwas erarbeitet und das will einem jetzt wieder jemand wegnehmen.

Als die Mauer fiel, studierte Jenny Erpenbeck Theaterwissenschaft, nachdem sie eine zweijährige Buchbinder-Lehre beendet hatte. Sie schaut auf ein Foto, das sie als Kind mit Zöpfen in der Wohnung der Großmutter mütterlicherseits zeigt – und sie erinnert sich an die Großmutter väterlicherseits, an Hedda Zinner. Es ist die Erinnerung an die erste Generation der DDR:

Als Kommunistin musste sie vor Hitler in die Sowjetunion flüchten, sie hat viel geopfert, um ihre Vision einer gerechten Welt zu verwirklichen. Später, in der DDR, war sie sehr bekannt, sie verkaufte 1,5 Millionen Bücher, signierte mit weißen Handschuhen auf dem Alexanderplatz ihre Werke. Nach dem Mauerfall ging ihr Verlag pleite, und sie musste mitansehen, wie ihr Lebenswerk nichts mehr zählte, weil die Geschichte andere Wege ging.

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Quelle: Süddeutsche Zeitung, „Fotoalbum“, 21. November 2015

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