Alle Artikel der Rubrik "Bücher"

Das „Kursbuch“ lebt noch und fragt: Ist Pegida Kunst? Oder das Zaubern?

0 Kommentare / Geschrieben am 1. Februar 2016 von Paul-Josef Raue in Allgemein, Bücher, Sachbuch.

Wer über die Achtundsechziger spricht und die Befreiung der alten Bundesrepublik aus dem Mief der Adenauer-Zeit, der stößt auf das „Kursbuch“: Die Zeitschrift, herausgegeben von Hans-Magnus-Enzensberger, war wie ein Buch gebunden und hatte auf dem Umschlag nur eine einfarbige Fläche mit einem Inhalts-Fenster.

Ein Text von Samuel Beckett eröffnete das erste Kursbuch im Juni 1965: „Falsch anfangen“; Peter Weiss und Martin Walser beschlossen es mit einem Dossier über den Auschwitz-Prozess. Fünfzig Jahre später gibt es das „Kursbuch“ immer noch, hat mehrmals Verlag, Herausgeber und Richtung geändert und sogar sein Ende 2008 überlebt.

Der Hamburger Murmann-Verlag rettete das Kursbuch und gab vor Weihnachten die 184. Ausgabe  heraus: „Was macht die Kunst?“ Die Beiträge sind so bunt wie ehedem, einige Beispiele:

Warum PEGIDA hässlich ist von Herausgeber Armin Nassehi:

Die Kunst müssen Pegidisten noch mehr hassen als syrische Moslems und afghanische Kameltreiber. Diese bieten wenigstens eine vermeintliche Gestalt an, die einem die Sicherheit darüber vermitteln kann, nicht nur wie anders sie sind, sondern was sie anrichten in einer Welt, die ihr Eigenes verliert, wenn sie nicht aufpasst.

Ist Kochen eine Kunst? von Jürgen Dollase:

Eine kreative Kochkunst, die diesen Namen wirklich verdient, würde das Spiel mit den traditionellen Wahrnehmungsmustern aufbrechen, sich sehr weit vom üblichen Einordnen und Beurteilen („lecker“) lösen und dafür ganz eindeutig und unmittelbar eine ebenso sensibilisierte wie reflektierte Wahrnehmung anstoßen.

Ist Managen eine Kunst? von Martin Kornberger:

Das Problem des vorherrschenden Managementstils ist die Art und Weise, wie er das Globale und das Lokale, den local tracker und die global view miteinander in Verbindung bringt.

Menschen haben zu viel Gehirn von Ernst Pöppel, Eva Ruhnau und Alexandra von Stosch:

Die Großhirnrinde hat es durch seine rasante Entfaltung in den letzten Jahrhunderttausenden mit sich gebracht, dass wir schnell und effizient Lösungen finden können, eine Zukunftsperspektive haben… Das sind aber alles Nebeneffekte, die wir geneigt sind, überzubewerten. Das erste Ziel ist und bleibt, mit diesem fabelhaftem Gehirn seine elementaren Bedürfnisse zu befriedigen… Mit diesem überentwickelten Gehirn des Menschen ist das meist sehr schnell erledigt… Konsequenz ist zunächst quälende Langeweile, die Folge ist das Leiden an der Leere. Wie kann man dieser entfliehen?… Langeweile und deren versuchte Überwindung sind damit der eigentliche Antreiber für Kunst und Wissenschaft.

Ein Zauberer funkelt mittendrin: Der Hamburger Notar und Jura-Professor Peter Rawert ist selber ein Zauber-Künstler und beschreibt den rationalen Umgang mit dem Irrationalen als angewandte Psychologie: Wie gelingt es, Menschen zu täuschen, die wissen, dass sie getäuscht werden?

Zauberer schaffen Illusionen. Tun sie es, um andere zu schädigen, sind sie Betrüger. Tun sie es, um sich Kräfte anzumaßen, die auf einen Zugang zu höheren Mächten deuten, sind sie Scharlatane, Schamanen oder Schwarzkünstler. Tun sie es hingegen, um zu unterhalten, zu erstaunen, zum Lachen, Rätseln oder zum Nachdenken zu bringen, dann sind sie… im besten Fall sogar Künstler – Zauber-Künstler.

Kursbuch 184 „Was macht die Kunst?“, 200 Seiten, Murmann, 19 Euro

 

Weimar, die Krimi-Stadt: Eine wilde Geschichte um Lyonel Feiningers „Blaue Kathedrale“

0 Kommentare / Geschrieben am 31. Januar 2016 von Paul-Josef Raue in Allgemein, Führung, Krimis.

Felix Leibrock: Todesblau.  Knaur Taschenbuch,  350 Seiten, 9,99 Euro

Weimar ist die Klassiker-Stadt, die deutsche: Goethe, Schiller und viele mehr. Weimar ist die Krimi-Stadt, die thüringische: „Tatort“ mit Nora Tschirner, Felix Leibrock als Mankell von Weimar und Ralf Kirsten als Polizeichef, der in einem „Tatort“ eine tragende Nebenrolle hatte und von einem Neonazi verprügelt wurde, wirklich und nicht gespielt.

Ob Felix Leibrock, der Krimis schreibende Pfarrer, den Weimarer Polizeichef kennt? Wohl kaum. In seinem zweiten Weimar-Krimi „Todesblau“ heißt der oberste Polizist Remde: Ein unangenehmer Mensch, ein noch unangenehmerer Vorgesetzter, ein eitler Typ, dessen „Druckventil“ bisweilen platzt und den seine Vorgesetzten, „die Fuzzis in Jena oder Erfurt“, auch nicht mögen.

„Ganz schön viele Ichs“, denkt der Polizist Woltmann, der sich aus Berlin in seine Heimatstadt Weimar versetzen ließ. „Ob Remde immer schon so gewesen war? Oder hat ihn erst dieser ständige Rechtfertigungszwang, dieses unablässige Gemessenwerden an Ermittlungsergebnissen dazu gebracht, sich permanent zu beweihräuchern, und sei es auch nur für den kleinsten Erfolg?“

Typen wie Remde brauchen Untergebene, die treu ergeben sind, aber sonst wenig zum Erfolg beitragen. Scholz heißt der Speichel-Lecker in Leibrocks Krimi: Als sein Chef wieder einmal einen Erfolg feiert, der doch wieder keiner ist, als Remde „laut wie ein Rohrspatz triumphiert“, thront sein Scholz in der Pressekonferenz in der ersten Reihe, sein Scholz, „dessen Vorgarten auf der Schädeldecke vor lauter zustimmendem Kopfwackeln bei jedem Satz Remdes auf und ab wedelte“.

Wie funktioniert so ein Ermittler-Team? Leibrock schildert die Dynamik dieser Truppe in Weimar so treffend, dass allein das Zusammenspiel der unterschiedlichen Typen die Lektüre von „Todesblau“ lohnt. Auf der einen Seite der unleidliche, von Vorurteilen gelenkte Chef, und sein Verehrer Scholz; auf der anderen Seite Mandy Hoppe, eine kluge Ermittlerin mit diplomatischem Geschick, und ihr Ex-Schulfreund Sascha Wortmann, der als einfacher Polizist ins Team kommt, aber seine Chance nutzen will, endlich zur Kripo zu kommen.

Woltmann treibt die Handlung voran: Er rennt noch nicht in die Fallen der Routine, ist unkonventionell und bereit, Fehler zu machen und zu vertuschen – wenn sie der Sache dienen. So werden Sascha und Mandy zum Motor der Handlung, die doch recht träge fließt wie die Ilm in einem warmen Sommer.

Der Plot, die Handlung des Krimis, ist regelrecht weimarisch. Es geht um ein zufällig entdecktes Gemälde Lyonel Feiningers: Die blaue Kathedrale. Solch ein Gemälde ist intelligent erfunden. Lyonel Feininger schuf den Holzschnitt „Kathedrale“ auf dem Titelblatt von Gropius‘ „Bauhaus-Manifest“ von 1919; fünf Jahre später gründete er mit Paul Klee, Wassily Kandinsky und Alexej Jawlensky die Künstlergruppe „Die blauen Vier“. So spielt auch Gelmeroda, die kleine Dorfkirche oberhalb von Weimar, in Leibrocks Krimi mit: Über hundert Mal hat Feininger die Kirche mit dem markanten spitzen Kirchturm als Motiv gewählt.

Wer Weimar mag oder kennenlernen will, taucht in diesem Krimi tief in diese geschichtsträchtige Stadt ein: Der Elephant, der Park an der Ilm, der Gingko-Baum am Platz der Demokratie, die Bauhaus-Universität. In den Nebenhandlungen wirbelt DDR-Vergangenheit hinein: Im Ernst-Thälmann-Kinderheim misshandelten Erzieherinnen Kinder, die die Volkspolizei während der „Ungeziefer“-Deportationen aus dem Eichsfeld in die Nähe Weimar brachte.

Und wer Lust hat, kann nach den Vorbildern mancher Personen und Orte in Weimars Wirklichkeit suchen: Welcher Redakteur verbirgt sich hinter Stoffels? Welche Zeitung hinter der „Thüringer Rundschau“, die im Weimarer Pressehaus redigiert wird? Hinter Hallo-Weimar-TV? Dem Gut Eichenroda?

Weimars alte und neue Liebhaber werden ihre Freude an „Todesblau“ haben: Krimi-Liebhaber dagegen mühen sich eher durch den nur mäßig spannenden Krimi.

Am 22. April stellt Felix Leibrock nach „Tempelbrand“ und „Todesblau“ im Hotel Elephant seinen dritten Weimar-Krimi vor: „Eisesgrün“.

LESEPROBE

Remdes Tonfall war ins Hysterische gekippt.

„Chef, ich habe mal über Lombardi recherchiert“, wagte sich Scholz vor. Doch Remde überging den Einwurf und fuhr ungeniert fort.

„Als ich damals den Pferdemörder festgenommen habe, erinnert sich vielleicht noch jemand daran? Das war der Täter, der sämtliche Pferdehalter im Weimarer Land in Angst und Schrecken versetzt hat. Durfte ja in der DDR keiner offen sprechen drüber. Die Stasi hatte da die Hand drauf. Waren ja vielleicht politisch motivierte Taten, eine Art Denkzettel für bestimmte Parteibonzen, weil es kaum wohl zufällig deren Edelpferde waren, jedenfalls, wo war ich stehengeblieben? Ja, genau, damals, da hatten alle schon gemeint, der Pferdemörder sei nur dann zu finden, wenn man ihn auf frischer Tat ertappt. Aber was habe ich getan? Nun, was wohl?“

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Thüringer Allgemeine, Thüringen-Sonntag, 23. Januar 2016, Seite 31

 

 

Nach Anschlägen in Paris äußerst aktuell: Wickerts neuer Krimi über korrupte Afrika-Politik Frankreichs

0 Kommentare / Geschrieben am 18. November 2015 von Paul-Josef Raue in Krimis, Politik.

Ulrich Wickert: Das Schloss in der Normandie. Hoffmann-und-Campe-Verlag, 318 Seiten, 22 Euro

„Na schön, du kannst mich gerne zitieren“, sagt Roland Dumas, Anwalt und Ex-Außenminister Frankreichs. „Französische Politiker werden von afrikanischen Staatschefs finanziert. Punkt. Das ist die Grundlage der französischen Afrikapolitik. Scherzhaft nennt man das in Regierungskreisen „Revolutionssteuer“.

Der Anwalt, über 90 Jahre alt, erzählt dem Kommissar, wie er für Jacques Chirac Koffer voller Bargeld in Afrika abgeholt, im Rathaus abgeliefert und so seinen Wahlkampf finanziert hatte. „Das System läuft noch immer noch wie geschmiert. Es wurde gleich nach der Unabhängigkeit der französischen Kolonien in den sechziger Jahren eingerichtet. Und seitdem haben alle frankophonen Staatschefs in Afrika die politische Klasse Frankreichs finanziert.“

Dies ist die Schlüsselszene in Ulrich Wickerts sechstem Frankreich-Krimi um den Pariser Untersuchungsrichter Jacques Ricou. Wickert, der Korrespondent in Frankreich war, zeigt die dunkle Seite der stolzen französischen Nation, beschreibt die immer noch koloniale und korrupte Politik der Pariser Regierungen, ob von rechts oder links.

Die Handlung in Wickerts Krimi ist unbeabsichtigt aktuell geworden nach den Attentaten in Paris. Denn die Wurzeln des Terrors reichen in der Tat tief in die Kolonial-Historie Frankreichs. Anders als die meisten anderen Mächte hat Frankreich bis heute nicht auf seinen Einfluss, auch militärisch, verzichtet.

Frankreich ist Partei, stets auf Seiten der Diktatoren in Afrika, etwa in Mali: Dort beherrschen islamistische Terroristen weite Teile des Nordens trotz des Militär-Einsatzes der Franzosen. In Mali will künftig die Bundeswehr den Franzosen auf deren Bitten hin intensiv helfen.

Ulrich Wickerts Roman spielt in Paris und in dem  kleinen westafrikanischen Staat Äquatorial-Guinea: Jesu, Vizepräsident des Landes und Sohn des Diktators, lebt feudal im teuersten Viertel von Paris und vermehrt seine Milliarden vor allem durch  Huren, die er in den armen Ländern der Welt rekrutiert. Als ihn  „Transparency International“ verklagt und Richter Ricou die Klage annimmt, dreht die Regierung durch:

Auf Druck des afrikanischen Diktators entlässt Frankreichs Präsident den zuständigen Minister und versucht, durch Intrigen und gefälschte Anschuldigungen den Richter aus dem Amt zu kegeln. In einer der schönsten Passagen des Romans erklärt ein Anwalt dem Staats-Gangster Jesu, wie die französische Justiz funktioniert; er überträgt die Gewaltenteilung ins Afrikanische:

„In Frankreich regieren drei rivalisierende Stämme: Der eine beherrscht die Nationalversammlung, der andere stellt den Präsidenten, und der dritte Stamm kontrolliert die Justiz.“ Das versteht der Präsidenten-Sohn und fragt: „Wer ist Clan-Chef der Justiz?“

„Das verstehen selbst viele Franzosen nicht“, erwidert der Anwalt. „Einen einzigen Clanchef gibt es nicht, sondern die Justiz wird von einem Rat der Weisen geführt, in dem auch Marabous und Juju-Priester sitzen.“

Auch das versteht Jesu – und es macht ihm Angst. „Marabous und Juju-Priester hatten große Macht und Zugang zu den bösen Geistern. Sie waren nicht zu zähmen. Selbst sein Vater fürchtete sich vor ihnen.“

Ulrich Wickert hat einen ruhig erzählten, gleichwohl spannenden Krimi geschrieben, der leicht in ein, zwei Nächten zu lesen ist. Seinen Reiz gewinnt er vor allem durch die Nähe zur aktuellen politischen Geschichte, so dass weite Teile des Buchs wie eine Dokumentation zu lesen sind,   und eine Parallel-Handlung, die ebenso wenig erfunden ist wie die Neigung französischer Politiker zur Korruption: In dem Schloss in der Normandie, das dem Buch den Titel gibt, wird in Menschenversuchen an einer Wahrheits-Spritze geforscht – im Auftrag von Geheimdiensten wie dem CIA.

**** Lesenswert

Ein ungewöhnliches DDR-Journalistenleben: Uwe Gerigs „Geschichten aus einem zerrissenen Land“

0 Kommentare / Geschrieben am 21. Oktober 2015 von Paul-Josef Raue in Allgemein, Bücher, Politik, Sachbuch.

 Am 7. November 1983 stellte eine Richterin am Kreisgericht Erfurt Mitte einen Haftbefehl aus – „weil konkreter Fluchtverdacht vorliegt und der Beschuldigte flüchtig ist“. Man könnte diese Begründung in das Kuriositäten-Kabinett der Justiz ablegen, wenn der Befehl einen Anlass zum Schmunzeln böte.

Wir lesen in der Begründung:

Der Beschuldigte erhielt gemeinsam mit seiner Ehefrau für die Zeit vom 10. Bis 25. Oktober 1983 eine Touristenreise in die SFRJ genehmigt. Von dieser Reise ist er gemeinsam mit seiner Ehefrau nicht wieder in die DDR zurückgekehrt. Am 18.10.1983 informierte er die Tochter, daß sich beide Beschuldigte in der BRD befinden und nicht wieder in die DDR zurückkommen.

SFRJ war Jugoslawien.

Der Beschuldigte ist Dr. Uwe Gerig, geboren in Nordhausen geboren und wohnhaft in Erfurt: Den Haftbefehl konnte er erst ein Jahrzehnt später lesen – in seiner Stasi-Akte. Mit dem Faksimile eröffnet der ehemalige Fotograf des „Volk“, dem SED-Vorgänger unserer Zeitung, sein Erinnerungsbuch „Krebs & Stier“.

Als ausgezeichneter „Aktivist der sozialistischen Arbeit“, der alle drei Jahre ein neues Auto kaufen durfte und der in einer großzügigen Penthouse-Wohnung lebte, fühlte sich Gerig als ein „nützlicher Idiot“: „Im Auftrag der Partei führte ich in unserem Blatt mit Bildberichten jede Woche von Neuem eine DDR vor, die es so gar nicht gab.“

Er war Erfurter Bezirks-Korrespondent der NBI, der „Neuen Berliner Illustrierte“, die Woche für Woche 48 Seiten hatte und eine Auflage von fast 750.000 Exemplaren. Die NBI-Position stand am Ende einer wahnwitzigen Karriere in der DDR: Gerig hatte Journalistik im „Roten Kloster“ in Leipzig studiert, wo „bedingungslos gehorsame Parteikader“ herangebildet wurden; er kam als Redakteur zum „Volk“; er nannte das ZK-Mitglied Eisler, als er von seinem Tod hörte „Ach, das Rumpelstilzchen“; dies Wort legte der Chefredakteur als „Verrat an der Sache der Arbeiterklasse“ aus und schmiss ihn raus: Er war arbeitslos – bis er das Angebot der NBI bekam, als freier Journalist zu berichten.

„Es reicht. Wir sollten gehen!“, sagte Gerig Frau Ruth trotzdem 1982. So begann eine ebenso abenteuerliche wie einzigartige Flucht:

Gerig bekommt eine Urlaubsreise nach Jugoslawien genehmigt, erhält im Zagreber Konsulat der Bundesrepublik von einem unwirschen Beamten zwar „Personen-Ersatzdokumente“, aber kein Geld für die Fahrkarte nach Österreich; von Freunden in Frankfurt lässt sich das Ehepaar Geld überweisen und flieht im Zug, nachdem es quälend lange auf die Überweisung gewartet hatte.

Das Buch ist eine Sammlung von rund 150 meist kurzen Episoden: Reisereportagen aus Nord-Korea und Vietnam, Erinnerungen aus dem Alltag in der DDR und der Bundesrepublik nach der Flucht. Der größte Teil  folgt dem Buch „Die Stasi nannte mich Reporter. Journalist in Ost und West“, das Gerig 2009 herausgegeben hat.

Pünktlich zum 25-Jahr-Jubiläum der Einheit hat er diese Texte aktualisiert und erweitert. Die Mischung der Artikel irritiert allerdings: Nur mühsam ist ein roter Faden zu entdecken. Sicher, Gerig erzählt sein Schicksal, aber das hätte er sinnvoller an einem Stück als Lebens-Roman erzählt. So muss sich der Leser das außergewöhnliche Leben eines DDR-Bürgers wie ein Puzzle zusammensetzen. Lesenswert ist es trotzdem.

*** Uwe Gerig: Krebs & Stier. Deutsche Geschichten aus einem zerrissenen Land. 368 Seiten, 24.90 Euro

 

LESEPROBE

Erfurt. Sieh mal an!

Erfurt kennen wir gut. In der Stadt haben wir achtzehn Jahre gewohnt. Erfurt ist uns trotzdem immer fremd geblieben. Keine Heimatgefühle? Keine Sehnsucht? Nein, nichts von allem. Seltsam!

Als wir unsere Wohnung in der Friedrich-Engels-Straße 47/144 1983 zum letzten Mal abschlossen und die vorher lange geplante Flucht in den WESTEN antraten, ließen wir Erfurt ohne Wehmut hinter uns.

Wegen der negativen persönlichen Erlebnisse in der Stadt, Denunziation, später ein Anwerbungsversuch durch den Staatssicherheitsdienst, Postkontrolle, Spitzelberichte und eine seltsame Stasi-Akte war Erfurt auch nach 1989 für uns ein abgeschlossenes Kapitel. Keine Heimatgefühle! Keine Sehnsucht!

Als mir eine Zeitschrift 2009 eine Reise nach Erfurt vorschlug, damit ich im Zusammenhang mit einer Buchveröffentlichung meine vor der Flucht 1983 in Erfurt gemachten Fotos mit Bildern von heute vergleiche, habe ich jedoch ohne Zögern zugesagt. Mit der Neugier des Reporters und Chronisten bin ich für zwei Tage in die Thüringer Landeshauptstadt gefahren.

Erfurt ist eine ansehenswerte Stadt geworden.

Ein erster Blick hinunter vom Petersberg auf den Domplatz und die Altstadt. Die Stadt scheint unverändert, was die Silhouette betrifft. Die hässlichen Betonklötze hinter den alten Türmen von Aegidiikirche und Kaufmännerkirche gab es damals schon, die noch höheren Wohnscheiben rechts von der Domgruppe sind erst Mitte der achtziger Jahre fertig geworden. Beide architektonischen Überbleibsel des realen Sozialismus umklammern alle anderen Häuser mit den steilen roten Ziegeldächern wie ein böser Krake.

Nach 1965 habe ich miterlebt, wie die im Zweiten Weltkrieg fast unzerstört gebliebene Altstadt von Erfurt nach und nach von Abrissbaggern plattgewalzt wurde. Hunderte kleine Wohnhäuser sind abgerissen worden, ganze Straßenzüge verschwanden. Die Namen der historischen Gassen gibt es nicht mehr. Ich habe damals den Abriss fotografiert, aber nur die Bilder von den Beton-Neubauten erschienen in der Zeitung. Und mein Archiv mit den vielen Dokumenten über das alte Erfurt hat der Staatssicherheitsdienst nach unserer Flucht beschlagnahmt, gründlich durchgesehen und dann am 16.07.1986 vernichtet. Unterschrift Major Küntzel. Das Dokument fand ich in meiner umfangreichen Stasi-Akte, die bei der Stasi-Unterlagen-Behörde, Außenstelle Erfurt, archiviert ist. Die Akte liegt in einem der ehemaligen Kasernengebäude auf dem Petersberg.

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Thüringer Allgemeine, Bücherseite, 9. Oktober 2015

Von Abschied und Enttäuschung: Wie Hölderlin damit umging

0 Kommentare / Geschrieben am 5. September 2015 von Paul-Josef Raue in Allgemein, Roman, Zitate.

Ein Mensch – „und wenn die Begeisterung hin ist, steht er da, wie ein mißratener Sohn, den der Vater aus dem Hause stieß, und betrachtet die ärmlichen Pfennige, die ihm das Mitleid auf den Weg gab“

Aus Hölderlins Briefroman „Hyperion an Bellarmin“, etwa  1799 geschrieben in der Nürtinger Neckarstiege in „der Mutter Haus“ – nach der Enttäuschung seines Lebens: Der 27-Jährige hatte sich unsterblich in Susette verliebt, die Frau des Bankiers Jakob Gontard, der ihn als Hauslehrer seiner Kinder verpflichtet hatte; als er die Liebe entdeckte, warf er Hölderlin raus.

Enttäuscht vom Leben ist auch der Grieche Hyperion, der seinem deutschen Freund Ballarmin schreibt: „Ich habe nichts, wovon ich sagen möchte, es sei mein eigen… Mein Geschäft auf Erden ist aus. Ich bin voll Willens an die Arbeit gegangen, habe geblutet darüber, und die Welt um keinen Pfenning reicher gemacht. Ruhmlos und einsam kehr ich zurück.“

Mörderbande in Nadelstreifen – Martin Suters Krimi „Montecristo“

0 Kommentare / Geschrieben am 26. Juli 2015 von Paul-Josef Raue in Bücher, Krimis.

Wollten Sie schon immer mal die Finanz-Krise verstehen? Und die undurchschaubare Rolle der Banken? Martin Suter erzählt von der Mörderbande in Nadelstreifen nebst Politikern so spannend und anschaulich, dass jeder gut unterhalten wird, einen spannenden Krimi nicht aus der Hand legen will – und nebenbei die Welt, auf jeden Fall Europa und seine Bürde besser versteht.

Suter erzählt den Bankenskandal am Beispiel eines einzelnen Bankers, der sich verspekuliert und bis zu zwanzig Milliarden in den Sand setzt. Ein einzelner reicht offenbar, um Staaten ins Wanken zu bringen, ein einzelner, der spielt, zockt, unersättlich ist oder einfach verrückt. Ein einzelner, der sich verspekuliert und Gewinne erfindet, um den Verlust auszugleichen mit fiktiven Gewinnen und Derivaten,

Derivate? „Ich weiß, kein Mensch versteht Derivate, nicht einmal die Banker, die sie verkaufen.“

Der Vorstandschef, als er endlich davon erfährt, befürchtet den Niedergang der Bank. „Nach den Erfahrungen der letzten Finanzkrise war die staatliche Rettung einer Bank, und sei sie noch so systemrelevant, politisch ausgeschlossen.“

Die zentralen Schurken treffen sich übrigens bei Geflügelleber und gepfeffertem Schweinebauch mit Geflügelgelee und gerösteten Landbrotscheiben, gefolgt von gekühltem bretonischem Hummer in Gelee mit frischen Mandeln.

„Alles eine einzige riesige Verschwörung“, sagt der Polizist. Und dazu braucht der Erzähler einen Selbstmord, einen Journalisten, der eigentlich nur einen Film über den Graf von Monte Christo drehen will und wider Willen zum Enthüllungsjournalisten wird, er braucht eine Liebesgeschichte und zwei Geldscheine mit identischer Seriennummer – das reicht.

Also ein starker Plot! Zwar ist Suters Stil keiner für Liebhaber, oder genauer: Er hat keinen eigenen Stil (aber könnte mal daran arbeiten), aber erzählen kann er, verdammt gut erzählen.

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Erweiterte Fassung eines Sommer-Buch-Tipps in der Thüringer Allgemeine 27. Juli 2015

Die Blutspur der USA – Orient-Experte Michael Lüders analysiert die amerikanische Götterdämmerung

0 Kommentare / Geschrieben am 23. April 2015 von Paul-Josef Raue in Politik, Sachbuch.

„Dieses Buch ist eine Abrechnung mit westlicher Politik.“ Was für ein Satz, den Michael Lüders gleich im ersten Absatz schreib! Also: Abrechnung mit Amerikanern und Europäern und allen im Westen, die sich zu den Guten zählen, zu denen, die Freiheit hochhalten und Menschenrechte.

Eigentlich müsste Lüders Buch das meistverkaufte in allen ostdeutschen Buchläden sein, trifft es doch den Nerv vieler, für die Amerika das Herz der Finsternis ist und Israel das Böse schlechthin. Doch wer nur seine Vorurteile, die schon vor der Wende galten, auffrischen will, den enttäuscht Lüders, der einer der besten Kenner des Orients ist und die Länder und Menschen von vielen Reisen und Begegnungen kennt.

Lüders sucht in der Geschichte die Ursachen für Kriege und Terror, für den Islamischen Staat und den Dschihad – und er geht zurück bis in die Kolonialzeit, als Briten und Franzosen Stammes-Grenzen zerstörten und mit dem Lineal neue zogen ohne Sinn, ohne Verstand.

Am Beispiel des Iran zeigt er, wie ein Staatsstreich von 1953 das Vertrauen der Menschen in die USA über Jahrzehnte bis in die Gegenwart zerstört hat. Vor gut sechzig Jahren, genau am 19. August 1953, organisierten der britische Geheimdienst und die CIA einen Putsch, mit dem sie den Regierungschef in Teheran stürzten, ein zudem an westlichen Werten orientierter Politiker, und dem Schah, einen willigen Diktator, die Rückkehr aus dem Exil ermöglichten und die Rückkehr zur alleinigen Macht.

„Mitten im Kalten Krieg spielten die Vereinigten Staaten eine Rolle beim Sturz einer demokratisch gewählten iranischen Regierung.“ Diesen Satz sprach 2009 in Kairo ein des Anti-Amerikanismus unverdächtiger Mann: US-Präsident Barak Obama.

Was nach dem Putsch von 1953 folgte ist die iranische Antwort: Die „islamische Revolution“ Khomeinis, die 404-Tage-Geiselnahme von US-Diplomaten, der Nervenkrieg um die Atombombe – und ein tiefes Misstrauen gegenüber den USA und dem Westen insgesamt.

Lüders sieht in dem 1953-er Putsch ein Grundmuster, das die USA und ihre Verbündeten später immer wieder anwandten, ob in Afghanistan oder dem Irak und anderen Interventionen: Die Dämonisierung des Gegners.

Die Amerikaner haben, so Lüders, aus ihren Interventionen Kriegen, die sie führten und die alle scheiterten, nichts gelernt: „Der Weltpolizist hat wesentlich dazu beigetragen, unsere Feinde überhaupt erst zu erschaffen. Al-Quaida wie auch der ,Islamische Staat‘ verdienen beide das Label ,Made in USA‘“.

Lüders verweist auf das Misstrauen der arabischen Politiker, die sich nährt aus dem Gegensatz von Freiheits- und Menschenrechts-Versprechen auf der einen Seite und der breiten Blutspur auf der anderen sowie wirtschaftlicher Strangulierung und Zusammenarbeit mit übelsten Diktatoren – „solange sie nur pro-westlich sind“.
Lüders Buch ist ein tief pessimistisches. Auch Regierungen und Opposition im Orient verlieren sich „auf absehbare Zeit im Nebel von Gewalt und Zerstörung“, und Lüders fragt resignierend:

Zerfällt die staatliche Ordnung im Nahen und Mittleren Osten insgesamt, so wie Jugoslawien zerfallen ist? Die bewährten Methoden westlicher Einflussnahme, Militär und Sanktionen, werden daran im Zweifel nichts ändern.

Lüders Blick auf die neue Weltordnung ist eher nebelumhüllt: Der amerikanischen Götterdämmerung folgt eine Zeit neuer Unübersichtlichkeit, die nach Diplomatie, Interkulturalität und Pragmatismus verlangt. Ein bisschen mehr hätte sich der Leser am Ende einer Reise durch verglühende Illusionen, Werte und Hoffnungen schon gewünscht.

Mit kleinen Schritten sollen wir anfangen und selbst Verantwortung übernehmen. „Lernen wir Demut und Bescheidenheit, bei allem Stolz auf unsere eigene Kultur“ – so endet Michael Lüders und fordert uns auf, Antisemitismus und Islamhass zu ächten, Härte zu zeigen gegenüber allen, die unsere Freiheit missbrauchen und Flüchtlingen zu helfen, bei uns Wurzeln zu schlagen. Und dann?

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Michael Lüders: Wer den Wind sät. Was westliche Politik im Orient anrichtet. Beck-Verlag, 175 Seiten, 14,95 Euro

Thüringer Allgemeine, 25. April 2015

 

Kommentar per Facebook von Wolfgang Kretschmer (23. April)

Viele der von Ihnen in der Rezension des neuesten Buchs von Michael Lüders genannten Tatsachen zur „westlichen“ Kolonialpolitik in den Verfallszeiten des einstigen osmanischen Großreiches sowie zu von westlichen Geheimdiensten nicht nur in Iran zu Zeiten des Kalten Krieges organisierte Putsche sind bekannt und in historischer Forschung weitgehend aufgeklärt. Wobei sich man sich auch fragen muss, was Moskau per DDR-Mitteln zu diesen „Erkenntnissen“ beigetragen hat.

Prinzipiell fände ich es gut, wenn vernetzte auch in ökonomische Interessen eingebundene Autoren ihre Einschätzung zur Lage „Nahost“ auf dem Büchermarkt feilbieten wie etwa Jürgen Todenhöfer, der Autorenhonorare in Flüchtlingshilfe und Entwicklung vor Ort in die Hilfe für Opfer missratener Staatenbildung aus Kolonialzeiten steckt. Dies würde wie üblich bedeuten, dass unterhalb offizieller diplomatischer Ebene zuerst auf ökonomischen Wegen sich friedfertige Kontakte anbahnen.

Leider ist zu beobachten, was kein halbwegs aufgeklärter Mensch heutzutage mehr verstehen kann: Religiöses wird als Waffe eingesetzt. Wer erinnert sich heute noch an den brutalen, vordergründig religiös motivierten Konflikt auf einer europäischen Insel nahe bei England? Es gibt ja einige Leute, die über den Crash religiös geprägter Zivilisationen nachdenken. Die USA haben nach Su wahrscheinlich ihre „Götterdämmerung“ noch vor sich. Möge uns Gott in Europa gnädig sein.

 

Facebook-Kommentar von Martin K. Burghartz (23. April)

Interessanter Blick auf das Buch von Lüders. Kleine Korrektur auf die 404 tägige Geiselnahme von Diplomaten in Teheran. Diplomaten?? Das war ein einziges Spionagenest inkl Passfälscherwerkstatt und kann noch heute an wenigen Tagen im Jahr besichtigt werden.

Wenn Geld die Demokratie ruiniert: Thore Hansens Banken-Thriller „Quantum Dawn“

1 Kommentar / Geschrieben am 19. März 2015 von Paul-Josef Raue in Krimis.

Thore D. Hansen erzählt in seinem Thriller „Quantum Dawn“ eine Verschwörungs-Geschichte vom Weltuntergang durch Algorithmen und Machtgier. Am Ende siegt eine Schwarz-Weiß-Sicht auf die moderne Welt

Der Leiter der Börsenaufsicht in London, einem der bedeutendsten Finanzplätze der Welt, schaut auf seinen Bildschirm und gerät in Panik: Ist das der lang erwartete Zusammenbruch? Sind die Handelssysteme manipuliert?

Ja, sie sind manipuliert. Die weltweiten Finanzsysteme sind eingestürzt. Da alle Börsen mit allen vernetzt sind, ist der Zusammenbruch offensichtlich das Ende der uns bekannten Zivilisation.

So endet der Thriller des Soziologen und Journalisten Thore D. Hansen, der in Österreich lebt; er erlebte die Finanzkrise als Berater von zwei europäischen großen Banken, wie aus seinem Lebenslauf hervorgeht.

Der Weltuntergang ist ein beliebtes Thema, seitdem Menschen schreiben und lesen und sich ängstigen: Die grausigsten Bilder erfand der Autor der Apokalypse in der Bibel, die dunkelsten Ahnungen vom Ende der Welt trieben Martin Luther um, und Frank Schätzing jagt seine aufgeklärten Leser auf tausend Seiten „Der Schwarm“ durch Naturkatastrophen von giftigen Quallen bis zu Tsunamis, die das Ende der Menschheit bedeuten.

Heute brauchen die Menschen nicht mehr die Natur, um sich ihren Untergang auszudenken: Sie schaffen es mit Machtgier und Algorithmen. So jedenfalls konstruiert es Thore D. Hansen und bedient sich dabei Verschwörungstheorien, wie sie in Pegida-Kreisen populär sind. Dafür steht im Buch die Scotland-Yard-Polizistin Rebecca Winter, die für den deutschen Agenten Eric Feg die Welt in Schwarz und Weiß einteilt. „Eine solche Weltsicht versperrt den Blick“, denkt sich der deutsche BND-Mann, „beschränke die Fähigkeit, einen Menschen in seiner Kompliziertheit zu erfassen.“

Am Ende behält die Schwarz-Weiß-Weltsicht die Oberhand: Der Raubtier-Kapitalismus frisst seine Kinder.

Thore D. Hansen versucht zwar, die komplizierten Mechanismen der Finanzwelt verständlich zu machen und die Herrschaft der Algorithmen zu beschreiben. Aber hängen bleibt beim Leser: Es ist alles schon zu spät. Bill Gates, Warren Buffett und die Super-Milliardäre haben längst das Kommando übernommen, den Übergang von der Demokratie in die Diktatur der Wirtschaft vollzogen. Zudem ist schon jeder Mensch durchschaubar, bis in seine Gefühle hinein, und jeder Politiker manipulierbar oder gefügig.

Warum liegen solche Geschichten derzeit so im Trend? Nach der Finanzkrise, dem Banken-Desaster und den NSA-Enthüllungen glauben immer mehr Menschen alle möglichen Verschwörungen nach dem Muster: Da wird schon etwas dran sein!. In der Tat ist immer etwas dran, aber eben nur: etwas. Wer spannende Lektüre sucht und tiefer in die komplizierte Materie der Finanzen einsteigen will, der ist mit Robert Harris‘ Thriller „Angst“ von 2011 besser bedient. Zudem erzählt Harris seine Geschichte zu Ende.

Bei Thore D. Hansen endet die Geschichte mit dem Satz eines Händlers auf der Frankfurter Börse, der zu einem Kollegen schaut: „Komm! Wir hauen besser ab, bevor die Menschen die Paläste stürmen.“ Es folgt nur noch ein „Memo“ für die UN-Generalversammlung: „Für die westliche Welt besteht das Risiko einer völligen Destabilisierung der Gesellschaften.“

Was wird aus den beiden Hauptfiguren des Romans, aus Rebecca und Eric? Was wird aus der leisen Romanze? Nichts. Der Roman endet, als wäre die Erde eine Wüste geworden. So unbarmherzig ist selten ein Autor mit den Erwartungen seiner Leser umgegangen: Ein Buch ohne Ende – sei es ein Happy End oder eine Tragödie – könnte man als Zumutung bezeichnen.

Dennoch – wer einen spannenden Thriller lesen will mit reichlich Morden und Verwicklungen, mit undurchsichtigen Typen und fiesen Charakteren, der wird unter einer Voraussetzung gut bedient: er muss das Buch in einem Zug lesen, sonst schwirren die Namen in seinem Kopf. Und wie so oft bei Thrillern: Wäre das Buch um die Hälfte kürzer, wäre das Vergnügen des Lesers doppelt so groß.

Thore D. Hansen: Quantum Dawn, Europa-Verlag, 463 Seiten, 16,99 €

Gewalt, Machtmissbrauch, Korruption – Ulrich Wickerts fünfter Krimi um den Pariser Richter Ricou

0 Kommentare / Geschrieben am 29. März 2014 von Paul-Josef Raue in Allgemein, Bücher, Krimis.

Ulrich Wickert: Das marokkanische Mädchen. Hoffmann-und-Campe, 318 Seiten, 19.99 Euro

Ein Mann will Präsident Frankreichs werden – mit allen Mitteln. Er weiß, dass er für sein größtes, sein einziges Ziel viele gute Beziehungen braucht, dass er entschlossen, gar unerbittlich sein muss und über Leichen gehen – und dass er Geld braucht, viel Geld.

Die Geschichte eines Politikers, der für die Macht alles macht, diese Geschichte erzählt Ulrich Wickert im neuen Krimi um den Untersuchungsrichter Ricou. Wie in den vier vorangegangenen Ricou-Geschichten stilisiert Wickert den Richter als einen Leuchtturm der Gerechtigkeit: Seine Feinde beförderten ihn am liebsten ins Jenseits; seine Freunde treffen ihn am liebsten im Bistro nebenan zu einem warmen Croissant und einem Café creme.

Es mag sein, dass Wickert seinen unerschrockenen Richter idealisiert, ein wenig zu sehr in einen Himmel hebt, in dem die guten Menschen ihren Rotwein trinken. Aber solche Menschen wärmen das Herz.

Als der erfahrene Kommissar, ein Freund des Richters, sieht, wie ein junger Polizist in ein Schnell-Cafés gehen will, ist er verwirrt: „Du kannst doch nicht in ein Starbucks gehen, wenn drei Meter weiter ein nettes französisches Bistro offen hat.“ Aber da könne er den Kaffee gleich mitnehmen, sagt der Polizist.

Der Kommissar hält dagegen: „Statt des Kaffeebechers sollten wir uns die Zeit für eine zivilisierte Tasse nehmen. Wir trinken im Bistro unseren Kaffee – stehend an der Theke. Wie unsere Väter und Großväter.“
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Der Kommissar und sein Freund, der Richter, leben in einer Welt, in der es in der lauten Stadt noch nette Bistros gibt und einen Gaston, der seinen Gästen jeden Wunsch abliest, in der nebenan die netten Nachbarn wohnen – und auch eine nette Frau, an die sich ein Richter nach einem schweren Tag anlehnen kann.

Dass diese nette Frau eine Reporterin ist, gar eine Reporterin für die schweren Fälle, das hilft nicht nur dem Richter bei seinen Ermittlungen, sondern auch dem Autor, um seine Erzählung im Fluss zu halten. Denn die Gegenwelt zur heilen, bald aussterbenden Bistro-Welt des Richters ist ein Moloch der Gewalt und des Machtmissbrauchs, der Korruption und Unmenschlichkeit.

Was Wickerts Krimi über die skandinavischen wie Mankells Kommissar Wallander erhebt, ist die Nähe zur Realität. Die Schurken aus der „Bling-Bling-Gesellschaft“, wie sie Wickert nennt, diese Schurken haben Namen, die wir aus der „Tagesschau“ kennen, etwa: Gaddafi, der Sarkozys Wahlkampf finanzierte; Mitterand, der Chinas Kommunisten bestach, um ein Fregatten-Geschäft mit Taiwan abzuwickeln.

Es ist ein Krimi über die große Bedrohung jeder Demokratie: Korruption. Ricous Freundin, die Reporterin, zählt die großen französischen Bestechung-Skandale auf:

„Die U-Boote für Pakistan. Die Waffenlieferungen nach Angola. Der Kauf der ostdeutschen Raffinerie Leuna durch Elf-Aquitaine.“

Die tragische Geschichte des marokkanischen Mädchens, die als einzige einen Mordanschlag überlebte, ist nur der Vordergrund eines politischen Dramas: Was ist das Leben eines Kindes gegen die Macht und die Gier eines Menschen, unbedingt Präsident zu werden?

Dabei ist Wickerts Krimi zuerst ein richtiger Krimi: Er beginnt mit einem Dreifach-Mord, führt nach Marokko und zu einem Attentat mit vielen Toten, einem Mord und einem Überlebenden, der sich später selber richtet, er führt zu einem Anschlag auf den Richter – und zu einem furiosen und spannenden Finale sowie, als Trost, in den letzten Sätzen zu einem leichten Liebes-Wirrwarr, das Wickert wahrscheinlich im nächsten Ricou-Krimi ausführlich beschreiben wird.

Der Krimi hat neben vielen Vorzügen einen weiteren: Er ist in kurze Kapitel unterteilt und eignet sich als ideale Bettlektüre – wenn da nicht die vielen Namen wären! Selten tauchen in einem 318-Seiten-Roman so viele Akteure auf, deren Namen ein des Französischen unkundiger Leser nur schwer auseinander halten kann. Dennoch: Wickert, der Ex-Tagesthemen-Moderator, ist besser als Mankell, er kann erzählen, und er kann schreiben.

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MARKIERT (Leseprobe)

Der Minister wütet

„Ich werde überhaupt nicht mit Ihnen reden. Ich habe nichts zu sagen!“, schrie der ehemalige Innenminister den Kriminalkommissar an. Und fügte grob hinzu, er könne ihn mal am Arsch lecken.

„Sie verstehen, dass ich Ihre Aussage jetzt notieren und von Zeugen bestätigen lasse“, sagte Jean Mahon. „Als Sie noch Innenminister waren, haben Sie jedem Polizisten eingebläut, er solle gegen Beleidigungen sofort vorgehen.“

Genau um sechs Uhr früh hatte Kommissar Jean Mahon in dem berühmten Mittelmeerort Fréjus an der von süß duftenden Glyzinien umrankten Haustür von Louis de Ronsards Villa geklingelt. Als sich niemand regte, klingelte er noch einmal, sogar ein drittes Mal, dann gab er den Befehl, die Tür aufzubrechen.

Im Bademantel kam Ronsard die Treppe aus der oberen Etage so schnell herunter, dass er fast stolperte. Als er die Polizisten in Uniform sah, fragte er brüllend, welcher Richter ihnen den Durchsuchungsbefehl unterschrieben hätte. Aber ohne auf eine Antwort zu warten, fügte er hinzu: „Wer immer es ist, ich scheiß auf ihn!“
Die sechs Polizisten, die Jean Mahon mitgenommen hatte, waren in die verschiedenen Ecken des Hauses ausgeschwärmt, um sicherzustellen, dass niemand im Haus versuchte, Beweismaterial zu vernichten.

Auf dem Treppenansatz erschien eine junge Frau, die nichts aussah wie Ronsards Ehefrau. Sie hielt einen zu großen Morgenmantel mit beiden Händen vor der Brust zusammen. Als sie von Ronsard wissen wollte, was denn los sei, schrie er sie an: „Geh zurück ins Bett. Die Stasi ist da“.

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„Sie sind verhaftet“, sagte der Kommissar lakonisch. „Nehmt ihn mit. Im Bademantel!“

„Und das Mädchen?“

Insgeheim fand (Kommissar) Jean Mahon die Lage amüsant, denn er wusste, was er anrichtete. Draußen stand ein Dutzend Fotografen und Kameraleute. Die Durchsuchung des Privathauses des ehemaligen Ministers, der lange Jahre auch Bürgermeister von Fréjus gewesen war, hatte sich längst rumgesprochen.
„Das Mädchen im Morgenmantel nehmt ihr auch mit.“ Er schaute einen seiner ältesten Mitarbeiter durchdringend an, ohne eine Miene zu verziehen. Der verstand den Blick. Wenn der Morgenmantel des Mädchens ein wenig verrutscht, werden sich die Fotografen freuen.

Thüringer Allgemeine 29. März 2014

Goethe, Frauen und der Wein

0 Kommentare / Geschrieben am 20. März 2014 von Paul-Josef Raue in Allgemein, Briefe.

Wie viel ist schon über Frauen und Wein geschrieben worden. Rudi Schuricke hat das Thema Anfang der fünfziger Jahre in die Hitparade gesungen. Aber so schön wie Goethe hat keiner die Liebesbeziehung zwischen Frau und Wein beschrieben:

Erst jetzt spür ich, daß sie da waren – wie man erst den Wein spürt, wenn er eine Weile hinunter ist.

Brief vom August 1780 an die schöne Frau von Branconi, Mätresse des Erbprinzen von Braunschweig. Weiter schreibt Goethe:

In Ihrer Gegenwart wünscht man sich reicher an Augen, Ohren und Geist, um nur sehen und glaubwürdig und begreiflich finden zu können, daß es dem Himmel, nach so viel verunglückten Versuchen, auch einmal gefallen und geglückt hat, etwas Ihresgleichen zu machen.

Was für ein Liebesbrief an eine unerreichbare Liebe!

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  • Andreas: Vielen Dank für den Spoiler…. manche Leute sollten wirklich überlegen die Finger vom Netz zu lassen.
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