Alle Artikel der Rubrik "Krimis"

Weimar, die Krimi-Stadt: Eine wilde Geschichte um Lyonel Feiningers „Blaue Kathedrale“

0 Kommentare / Geschrieben am 31. Januar 2016 von Paul-Josef Raue in Allgemein, Führung, Krimis.

Felix Leibrock: Todesblau.  Knaur Taschenbuch,  350 Seiten, 9,99 Euro

Weimar ist die Klassiker-Stadt, die deutsche: Goethe, Schiller und viele mehr. Weimar ist die Krimi-Stadt, die thüringische: „Tatort“ mit Nora Tschirner, Felix Leibrock als Mankell von Weimar und Ralf Kirsten als Polizeichef, der in einem „Tatort“ eine tragende Nebenrolle hatte und von einem Neonazi verprügelt wurde, wirklich und nicht gespielt.

Ob Felix Leibrock, der Krimis schreibende Pfarrer, den Weimarer Polizeichef kennt? Wohl kaum. In seinem zweiten Weimar-Krimi „Todesblau“ heißt der oberste Polizist Remde: Ein unangenehmer Mensch, ein noch unangenehmerer Vorgesetzter, ein eitler Typ, dessen „Druckventil“ bisweilen platzt und den seine Vorgesetzten, „die Fuzzis in Jena oder Erfurt“, auch nicht mögen.

„Ganz schön viele Ichs“, denkt der Polizist Woltmann, der sich aus Berlin in seine Heimatstadt Weimar versetzen ließ. „Ob Remde immer schon so gewesen war? Oder hat ihn erst dieser ständige Rechtfertigungszwang, dieses unablässige Gemessenwerden an Ermittlungsergebnissen dazu gebracht, sich permanent zu beweihräuchern, und sei es auch nur für den kleinsten Erfolg?“

Typen wie Remde brauchen Untergebene, die treu ergeben sind, aber sonst wenig zum Erfolg beitragen. Scholz heißt der Speichel-Lecker in Leibrocks Krimi: Als sein Chef wieder einmal einen Erfolg feiert, der doch wieder keiner ist, als Remde „laut wie ein Rohrspatz triumphiert“, thront sein Scholz in der Pressekonferenz in der ersten Reihe, sein Scholz, „dessen Vorgarten auf der Schädeldecke vor lauter zustimmendem Kopfwackeln bei jedem Satz Remdes auf und ab wedelte“.

Wie funktioniert so ein Ermittler-Team? Leibrock schildert die Dynamik dieser Truppe in Weimar so treffend, dass allein das Zusammenspiel der unterschiedlichen Typen die Lektüre von „Todesblau“ lohnt. Auf der einen Seite der unleidliche, von Vorurteilen gelenkte Chef, und sein Verehrer Scholz; auf der anderen Seite Mandy Hoppe, eine kluge Ermittlerin mit diplomatischem Geschick, und ihr Ex-Schulfreund Sascha Wortmann, der als einfacher Polizist ins Team kommt, aber seine Chance nutzen will, endlich zur Kripo zu kommen.

Woltmann treibt die Handlung voran: Er rennt noch nicht in die Fallen der Routine, ist unkonventionell und bereit, Fehler zu machen und zu vertuschen – wenn sie der Sache dienen. So werden Sascha und Mandy zum Motor der Handlung, die doch recht träge fließt wie die Ilm in einem warmen Sommer.

Der Plot, die Handlung des Krimis, ist regelrecht weimarisch. Es geht um ein zufällig entdecktes Gemälde Lyonel Feiningers: Die blaue Kathedrale. Solch ein Gemälde ist intelligent erfunden. Lyonel Feininger schuf den Holzschnitt „Kathedrale“ auf dem Titelblatt von Gropius‘ „Bauhaus-Manifest“ von 1919; fünf Jahre später gründete er mit Paul Klee, Wassily Kandinsky und Alexej Jawlensky die Künstlergruppe „Die blauen Vier“. So spielt auch Gelmeroda, die kleine Dorfkirche oberhalb von Weimar, in Leibrocks Krimi mit: Über hundert Mal hat Feininger die Kirche mit dem markanten spitzen Kirchturm als Motiv gewählt.

Wer Weimar mag oder kennenlernen will, taucht in diesem Krimi tief in diese geschichtsträchtige Stadt ein: Der Elephant, der Park an der Ilm, der Gingko-Baum am Platz der Demokratie, die Bauhaus-Universität. In den Nebenhandlungen wirbelt DDR-Vergangenheit hinein: Im Ernst-Thälmann-Kinderheim misshandelten Erzieherinnen Kinder, die die Volkspolizei während der „Ungeziefer“-Deportationen aus dem Eichsfeld in die Nähe Weimar brachte.

Und wer Lust hat, kann nach den Vorbildern mancher Personen und Orte in Weimars Wirklichkeit suchen: Welcher Redakteur verbirgt sich hinter Stoffels? Welche Zeitung hinter der „Thüringer Rundschau“, die im Weimarer Pressehaus redigiert wird? Hinter Hallo-Weimar-TV? Dem Gut Eichenroda?

Weimars alte und neue Liebhaber werden ihre Freude an „Todesblau“ haben: Krimi-Liebhaber dagegen mühen sich eher durch den nur mäßig spannenden Krimi.

Am 22. April stellt Felix Leibrock nach „Tempelbrand“ und „Todesblau“ im Hotel Elephant seinen dritten Weimar-Krimi vor: „Eisesgrün“.

LESEPROBE

Remdes Tonfall war ins Hysterische gekippt.

„Chef, ich habe mal über Lombardi recherchiert“, wagte sich Scholz vor. Doch Remde überging den Einwurf und fuhr ungeniert fort.

„Als ich damals den Pferdemörder festgenommen habe, erinnert sich vielleicht noch jemand daran? Das war der Täter, der sämtliche Pferdehalter im Weimarer Land in Angst und Schrecken versetzt hat. Durfte ja in der DDR keiner offen sprechen drüber. Die Stasi hatte da die Hand drauf. Waren ja vielleicht politisch motivierte Taten, eine Art Denkzettel für bestimmte Parteibonzen, weil es kaum wohl zufällig deren Edelpferde waren, jedenfalls, wo war ich stehengeblieben? Ja, genau, damals, da hatten alle schon gemeint, der Pferdemörder sei nur dann zu finden, wenn man ihn auf frischer Tat ertappt. Aber was habe ich getan? Nun, was wohl?“

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Thüringer Allgemeine, Thüringen-Sonntag, 23. Januar 2016, Seite 31

 

 

Nach Anschlägen in Paris äußerst aktuell: Wickerts neuer Krimi über korrupte Afrika-Politik Frankreichs

0 Kommentare / Geschrieben am 18. November 2015 von Paul-Josef Raue in Krimis, Politik.

Ulrich Wickert: Das Schloss in der Normandie. Hoffmann-und-Campe-Verlag, 318 Seiten, 22 Euro

„Na schön, du kannst mich gerne zitieren“, sagt Roland Dumas, Anwalt und Ex-Außenminister Frankreichs. „Französische Politiker werden von afrikanischen Staatschefs finanziert. Punkt. Das ist die Grundlage der französischen Afrikapolitik. Scherzhaft nennt man das in Regierungskreisen „Revolutionssteuer“.

Der Anwalt, über 90 Jahre alt, erzählt dem Kommissar, wie er für Jacques Chirac Koffer voller Bargeld in Afrika abgeholt, im Rathaus abgeliefert und so seinen Wahlkampf finanziert hatte. „Das System läuft noch immer noch wie geschmiert. Es wurde gleich nach der Unabhängigkeit der französischen Kolonien in den sechziger Jahren eingerichtet. Und seitdem haben alle frankophonen Staatschefs in Afrika die politische Klasse Frankreichs finanziert.“

Dies ist die Schlüsselszene in Ulrich Wickerts sechstem Frankreich-Krimi um den Pariser Untersuchungsrichter Jacques Ricou. Wickert, der Korrespondent in Frankreich war, zeigt die dunkle Seite der stolzen französischen Nation, beschreibt die immer noch koloniale und korrupte Politik der Pariser Regierungen, ob von rechts oder links.

Die Handlung in Wickerts Krimi ist unbeabsichtigt aktuell geworden nach den Attentaten in Paris. Denn die Wurzeln des Terrors reichen in der Tat tief in die Kolonial-Historie Frankreichs. Anders als die meisten anderen Mächte hat Frankreich bis heute nicht auf seinen Einfluss, auch militärisch, verzichtet.

Frankreich ist Partei, stets auf Seiten der Diktatoren in Afrika, etwa in Mali: Dort beherrschen islamistische Terroristen weite Teile des Nordens trotz des Militär-Einsatzes der Franzosen. In Mali will künftig die Bundeswehr den Franzosen auf deren Bitten hin intensiv helfen.

Ulrich Wickerts Roman spielt in Paris und in dem  kleinen westafrikanischen Staat Äquatorial-Guinea: Jesu, Vizepräsident des Landes und Sohn des Diktators, lebt feudal im teuersten Viertel von Paris und vermehrt seine Milliarden vor allem durch  Huren, die er in den armen Ländern der Welt rekrutiert. Als ihn  „Transparency International“ verklagt und Richter Ricou die Klage annimmt, dreht die Regierung durch:

Auf Druck des afrikanischen Diktators entlässt Frankreichs Präsident den zuständigen Minister und versucht, durch Intrigen und gefälschte Anschuldigungen den Richter aus dem Amt zu kegeln. In einer der schönsten Passagen des Romans erklärt ein Anwalt dem Staats-Gangster Jesu, wie die französische Justiz funktioniert; er überträgt die Gewaltenteilung ins Afrikanische:

„In Frankreich regieren drei rivalisierende Stämme: Der eine beherrscht die Nationalversammlung, der andere stellt den Präsidenten, und der dritte Stamm kontrolliert die Justiz.“ Das versteht der Präsidenten-Sohn und fragt: „Wer ist Clan-Chef der Justiz?“

„Das verstehen selbst viele Franzosen nicht“, erwidert der Anwalt. „Einen einzigen Clanchef gibt es nicht, sondern die Justiz wird von einem Rat der Weisen geführt, in dem auch Marabous und Juju-Priester sitzen.“

Auch das versteht Jesu – und es macht ihm Angst. „Marabous und Juju-Priester hatten große Macht und Zugang zu den bösen Geistern. Sie waren nicht zu zähmen. Selbst sein Vater fürchtete sich vor ihnen.“

Ulrich Wickert hat einen ruhig erzählten, gleichwohl spannenden Krimi geschrieben, der leicht in ein, zwei Nächten zu lesen ist. Seinen Reiz gewinnt er vor allem durch die Nähe zur aktuellen politischen Geschichte, so dass weite Teile des Buchs wie eine Dokumentation zu lesen sind,   und eine Parallel-Handlung, die ebenso wenig erfunden ist wie die Neigung französischer Politiker zur Korruption: In dem Schloss in der Normandie, das dem Buch den Titel gibt, wird in Menschenversuchen an einer Wahrheits-Spritze geforscht – im Auftrag von Geheimdiensten wie dem CIA.

**** Lesenswert

Mörderbande in Nadelstreifen – Martin Suters Krimi „Montecristo“

0 Kommentare / Geschrieben am 26. Juli 2015 von Paul-Josef Raue in Bücher, Krimis.

Wollten Sie schon immer mal die Finanz-Krise verstehen? Und die undurchschaubare Rolle der Banken? Martin Suter erzählt von der Mörderbande in Nadelstreifen nebst Politikern so spannend und anschaulich, dass jeder gut unterhalten wird, einen spannenden Krimi nicht aus der Hand legen will – und nebenbei die Welt, auf jeden Fall Europa und seine Bürde besser versteht.

Suter erzählt den Bankenskandal am Beispiel eines einzelnen Bankers, der sich verspekuliert und bis zu zwanzig Milliarden in den Sand setzt. Ein einzelner reicht offenbar, um Staaten ins Wanken zu bringen, ein einzelner, der spielt, zockt, unersättlich ist oder einfach verrückt. Ein einzelner, der sich verspekuliert und Gewinne erfindet, um den Verlust auszugleichen mit fiktiven Gewinnen und Derivaten,

Derivate? „Ich weiß, kein Mensch versteht Derivate, nicht einmal die Banker, die sie verkaufen.“

Der Vorstandschef, als er endlich davon erfährt, befürchtet den Niedergang der Bank. „Nach den Erfahrungen der letzten Finanzkrise war die staatliche Rettung einer Bank, und sei sie noch so systemrelevant, politisch ausgeschlossen.“

Die zentralen Schurken treffen sich übrigens bei Geflügelleber und gepfeffertem Schweinebauch mit Geflügelgelee und gerösteten Landbrotscheiben, gefolgt von gekühltem bretonischem Hummer in Gelee mit frischen Mandeln.

„Alles eine einzige riesige Verschwörung“, sagt der Polizist. Und dazu braucht der Erzähler einen Selbstmord, einen Journalisten, der eigentlich nur einen Film über den Graf von Monte Christo drehen will und wider Willen zum Enthüllungsjournalisten wird, er braucht eine Liebesgeschichte und zwei Geldscheine mit identischer Seriennummer – das reicht.

Also ein starker Plot! Zwar ist Suters Stil keiner für Liebhaber, oder genauer: Er hat keinen eigenen Stil (aber könnte mal daran arbeiten), aber erzählen kann er, verdammt gut erzählen.

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Erweiterte Fassung eines Sommer-Buch-Tipps in der Thüringer Allgemeine 27. Juli 2015

Wenn Geld die Demokratie ruiniert: Thore Hansens Banken-Thriller „Quantum Dawn“

1 Kommentar / Geschrieben am 19. März 2015 von Paul-Josef Raue in Krimis.

Thore D. Hansen erzählt in seinem Thriller „Quantum Dawn“ eine Verschwörungs-Geschichte vom Weltuntergang durch Algorithmen und Machtgier. Am Ende siegt eine Schwarz-Weiß-Sicht auf die moderne Welt

Der Leiter der Börsenaufsicht in London, einem der bedeutendsten Finanzplätze der Welt, schaut auf seinen Bildschirm und gerät in Panik: Ist das der lang erwartete Zusammenbruch? Sind die Handelssysteme manipuliert?

Ja, sie sind manipuliert. Die weltweiten Finanzsysteme sind eingestürzt. Da alle Börsen mit allen vernetzt sind, ist der Zusammenbruch offensichtlich das Ende der uns bekannten Zivilisation.

So endet der Thriller des Soziologen und Journalisten Thore D. Hansen, der in Österreich lebt; er erlebte die Finanzkrise als Berater von zwei europäischen großen Banken, wie aus seinem Lebenslauf hervorgeht.

Der Weltuntergang ist ein beliebtes Thema, seitdem Menschen schreiben und lesen und sich ängstigen: Die grausigsten Bilder erfand der Autor der Apokalypse in der Bibel, die dunkelsten Ahnungen vom Ende der Welt trieben Martin Luther um, und Frank Schätzing jagt seine aufgeklärten Leser auf tausend Seiten „Der Schwarm“ durch Naturkatastrophen von giftigen Quallen bis zu Tsunamis, die das Ende der Menschheit bedeuten.

Heute brauchen die Menschen nicht mehr die Natur, um sich ihren Untergang auszudenken: Sie schaffen es mit Machtgier und Algorithmen. So jedenfalls konstruiert es Thore D. Hansen und bedient sich dabei Verschwörungstheorien, wie sie in Pegida-Kreisen populär sind. Dafür steht im Buch die Scotland-Yard-Polizistin Rebecca Winter, die für den deutschen Agenten Eric Feg die Welt in Schwarz und Weiß einteilt. „Eine solche Weltsicht versperrt den Blick“, denkt sich der deutsche BND-Mann, „beschränke die Fähigkeit, einen Menschen in seiner Kompliziertheit zu erfassen.“

Am Ende behält die Schwarz-Weiß-Weltsicht die Oberhand: Der Raubtier-Kapitalismus frisst seine Kinder.

Thore D. Hansen versucht zwar, die komplizierten Mechanismen der Finanzwelt verständlich zu machen und die Herrschaft der Algorithmen zu beschreiben. Aber hängen bleibt beim Leser: Es ist alles schon zu spät. Bill Gates, Warren Buffett und die Super-Milliardäre haben längst das Kommando übernommen, den Übergang von der Demokratie in die Diktatur der Wirtschaft vollzogen. Zudem ist schon jeder Mensch durchschaubar, bis in seine Gefühle hinein, und jeder Politiker manipulierbar oder gefügig.

Warum liegen solche Geschichten derzeit so im Trend? Nach der Finanzkrise, dem Banken-Desaster und den NSA-Enthüllungen glauben immer mehr Menschen alle möglichen Verschwörungen nach dem Muster: Da wird schon etwas dran sein!. In der Tat ist immer etwas dran, aber eben nur: etwas. Wer spannende Lektüre sucht und tiefer in die komplizierte Materie der Finanzen einsteigen will, der ist mit Robert Harris‘ Thriller „Angst“ von 2011 besser bedient. Zudem erzählt Harris seine Geschichte zu Ende.

Bei Thore D. Hansen endet die Geschichte mit dem Satz eines Händlers auf der Frankfurter Börse, der zu einem Kollegen schaut: „Komm! Wir hauen besser ab, bevor die Menschen die Paläste stürmen.“ Es folgt nur noch ein „Memo“ für die UN-Generalversammlung: „Für die westliche Welt besteht das Risiko einer völligen Destabilisierung der Gesellschaften.“

Was wird aus den beiden Hauptfiguren des Romans, aus Rebecca und Eric? Was wird aus der leisen Romanze? Nichts. Der Roman endet, als wäre die Erde eine Wüste geworden. So unbarmherzig ist selten ein Autor mit den Erwartungen seiner Leser umgegangen: Ein Buch ohne Ende – sei es ein Happy End oder eine Tragödie – könnte man als Zumutung bezeichnen.

Dennoch – wer einen spannenden Thriller lesen will mit reichlich Morden und Verwicklungen, mit undurchsichtigen Typen und fiesen Charakteren, der wird unter einer Voraussetzung gut bedient: er muss das Buch in einem Zug lesen, sonst schwirren die Namen in seinem Kopf. Und wie so oft bei Thrillern: Wäre das Buch um die Hälfte kürzer, wäre das Vergnügen des Lesers doppelt so groß.

Thore D. Hansen: Quantum Dawn, Europa-Verlag, 463 Seiten, 16,99 €

Gewalt, Machtmissbrauch, Korruption – Ulrich Wickerts fünfter Krimi um den Pariser Richter Ricou

0 Kommentare / Geschrieben am 29. März 2014 von Paul-Josef Raue in Allgemein, Bücher, Krimis.

Ulrich Wickert: Das marokkanische Mädchen. Hoffmann-und-Campe, 318 Seiten, 19.99 Euro

Ein Mann will Präsident Frankreichs werden – mit allen Mitteln. Er weiß, dass er für sein größtes, sein einziges Ziel viele gute Beziehungen braucht, dass er entschlossen, gar unerbittlich sein muss und über Leichen gehen – und dass er Geld braucht, viel Geld.

Die Geschichte eines Politikers, der für die Macht alles macht, diese Geschichte erzählt Ulrich Wickert im neuen Krimi um den Untersuchungsrichter Ricou. Wie in den vier vorangegangenen Ricou-Geschichten stilisiert Wickert den Richter als einen Leuchtturm der Gerechtigkeit: Seine Feinde beförderten ihn am liebsten ins Jenseits; seine Freunde treffen ihn am liebsten im Bistro nebenan zu einem warmen Croissant und einem Café creme.

Es mag sein, dass Wickert seinen unerschrockenen Richter idealisiert, ein wenig zu sehr in einen Himmel hebt, in dem die guten Menschen ihren Rotwein trinken. Aber solche Menschen wärmen das Herz.

Als der erfahrene Kommissar, ein Freund des Richters, sieht, wie ein junger Polizist in ein Schnell-Cafés gehen will, ist er verwirrt: „Du kannst doch nicht in ein Starbucks gehen, wenn drei Meter weiter ein nettes französisches Bistro offen hat.“ Aber da könne er den Kaffee gleich mitnehmen, sagt der Polizist.

Der Kommissar hält dagegen: „Statt des Kaffeebechers sollten wir uns die Zeit für eine zivilisierte Tasse nehmen. Wir trinken im Bistro unseren Kaffee – stehend an der Theke. Wie unsere Väter und Großväter.“
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Der Kommissar und sein Freund, der Richter, leben in einer Welt, in der es in der lauten Stadt noch nette Bistros gibt und einen Gaston, der seinen Gästen jeden Wunsch abliest, in der nebenan die netten Nachbarn wohnen – und auch eine nette Frau, an die sich ein Richter nach einem schweren Tag anlehnen kann.

Dass diese nette Frau eine Reporterin ist, gar eine Reporterin für die schweren Fälle, das hilft nicht nur dem Richter bei seinen Ermittlungen, sondern auch dem Autor, um seine Erzählung im Fluss zu halten. Denn die Gegenwelt zur heilen, bald aussterbenden Bistro-Welt des Richters ist ein Moloch der Gewalt und des Machtmissbrauchs, der Korruption und Unmenschlichkeit.

Was Wickerts Krimi über die skandinavischen wie Mankells Kommissar Wallander erhebt, ist die Nähe zur Realität. Die Schurken aus der „Bling-Bling-Gesellschaft“, wie sie Wickert nennt, diese Schurken haben Namen, die wir aus der „Tagesschau“ kennen, etwa: Gaddafi, der Sarkozys Wahlkampf finanzierte; Mitterand, der Chinas Kommunisten bestach, um ein Fregatten-Geschäft mit Taiwan abzuwickeln.

Es ist ein Krimi über die große Bedrohung jeder Demokratie: Korruption. Ricous Freundin, die Reporterin, zählt die großen französischen Bestechung-Skandale auf:

„Die U-Boote für Pakistan. Die Waffenlieferungen nach Angola. Der Kauf der ostdeutschen Raffinerie Leuna durch Elf-Aquitaine.“

Die tragische Geschichte des marokkanischen Mädchens, die als einzige einen Mordanschlag überlebte, ist nur der Vordergrund eines politischen Dramas: Was ist das Leben eines Kindes gegen die Macht und die Gier eines Menschen, unbedingt Präsident zu werden?

Dabei ist Wickerts Krimi zuerst ein richtiger Krimi: Er beginnt mit einem Dreifach-Mord, führt nach Marokko und zu einem Attentat mit vielen Toten, einem Mord und einem Überlebenden, der sich später selber richtet, er führt zu einem Anschlag auf den Richter – und zu einem furiosen und spannenden Finale sowie, als Trost, in den letzten Sätzen zu einem leichten Liebes-Wirrwarr, das Wickert wahrscheinlich im nächsten Ricou-Krimi ausführlich beschreiben wird.

Der Krimi hat neben vielen Vorzügen einen weiteren: Er ist in kurze Kapitel unterteilt und eignet sich als ideale Bettlektüre – wenn da nicht die vielen Namen wären! Selten tauchen in einem 318-Seiten-Roman so viele Akteure auf, deren Namen ein des Französischen unkundiger Leser nur schwer auseinander halten kann. Dennoch: Wickert, der Ex-Tagesthemen-Moderator, ist besser als Mankell, er kann erzählen, und er kann schreiben.

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MARKIERT (Leseprobe)

Der Minister wütet

„Ich werde überhaupt nicht mit Ihnen reden. Ich habe nichts zu sagen!“, schrie der ehemalige Innenminister den Kriminalkommissar an. Und fügte grob hinzu, er könne ihn mal am Arsch lecken.

„Sie verstehen, dass ich Ihre Aussage jetzt notieren und von Zeugen bestätigen lasse“, sagte Jean Mahon. „Als Sie noch Innenminister waren, haben Sie jedem Polizisten eingebläut, er solle gegen Beleidigungen sofort vorgehen.“

Genau um sechs Uhr früh hatte Kommissar Jean Mahon in dem berühmten Mittelmeerort Fréjus an der von süß duftenden Glyzinien umrankten Haustür von Louis de Ronsards Villa geklingelt. Als sich niemand regte, klingelte er noch einmal, sogar ein drittes Mal, dann gab er den Befehl, die Tür aufzubrechen.

Im Bademantel kam Ronsard die Treppe aus der oberen Etage so schnell herunter, dass er fast stolperte. Als er die Polizisten in Uniform sah, fragte er brüllend, welcher Richter ihnen den Durchsuchungsbefehl unterschrieben hätte. Aber ohne auf eine Antwort zu warten, fügte er hinzu: „Wer immer es ist, ich scheiß auf ihn!“
Die sechs Polizisten, die Jean Mahon mitgenommen hatte, waren in die verschiedenen Ecken des Hauses ausgeschwärmt, um sicherzustellen, dass niemand im Haus versuchte, Beweismaterial zu vernichten.

Auf dem Treppenansatz erschien eine junge Frau, die nichts aussah wie Ronsards Ehefrau. Sie hielt einen zu großen Morgenmantel mit beiden Händen vor der Brust zusammen. Als sie von Ronsard wissen wollte, was denn los sei, schrie er sie an: „Geh zurück ins Bett. Die Stasi ist da“.

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„Sie sind verhaftet“, sagte der Kommissar lakonisch. „Nehmt ihn mit. Im Bademantel!“

„Und das Mädchen?“

Insgeheim fand (Kommissar) Jean Mahon die Lage amüsant, denn er wusste, was er anrichtete. Draußen stand ein Dutzend Fotografen und Kameraleute. Die Durchsuchung des Privathauses des ehemaligen Ministers, der lange Jahre auch Bürgermeister von Fréjus gewesen war, hatte sich längst rumgesprochen.
„Das Mädchen im Morgenmantel nehmt ihr auch mit.“ Er schaute einen seiner ältesten Mitarbeiter durchdringend an, ohne eine Miene zu verziehen. Der verstand den Blick. Wenn der Morgenmantel des Mädchens ein wenig verrutscht, werden sich die Fotografen freuen.

Thüringer Allgemeine 29. März 2014

Ein flapsiger Menschenfeind: Jussi Adler Olsens „Erbarmen“

0 Kommentare / Geschrieben am 29. Januar 2014 von Paul-Josef Raue in Krimis.

Jussi Adler Olsen ist einer der erfolgreichsten Schriftsteller Europas: Die Krimis um den Sonderermittler Carl Morck kommen stets auf Spitzenplätze der deutschen Bestsellerlisten. Kein Däne verkauft bei uns mehr Bücher.

So ist es erstaunlich, dass erst in der kommenden Woche eine Verfilmung in die deutschen Kinos kommt:

„Erbarmen“, der erste von fünf Fällen des Kommissars Carl Morck. Die Bücher von Olsen lesen sich schon wie Drehbücher, wie vorbereitet für die Verfilmung: schlicht, einfach schlicht.

Die Kritiken für den Film sind eher verhalten: durchschnittlich spannend – und keineswegs so spektakulär wie die Verfilmungen der Stieg-Larsson-Trilogie.

Der Schwede Larsson, auch ein Bestseller-Autor, hatte eine ebenso lange wie spannende Verschwörungsgeschichte geschrieben um den Enthüllungs-Journalisten Mikael und die skurrile Internet-Hackerin Lisbeth. Die Kritiker waren entweder begeistert oder entsetzt über Stil wie Handlung in Larssons Romanen – so wie sie es bei Olsen sind.

Worum geht es in „Erbarmen“, dem ersten Fall des Kommissars Carl Morck vom Sonderdezernat Q: Ein Frau wird vermisst, die Polizei tappt im Dunkeln, legt den Fall als „ungelöst“ ab, obwohl in demselben Monat fünf weitere Frauen verschwinden.

Offenbar hat das Verschwinden zu tun mit einem Tabu-Thema der dänischen Geschichte: Fast vierzig Jahre lang bis 1961 sperrte der Staat „unmoralische“ Frauen auf eine Insel und sterilisierte sie.

Wie in den anderen Morck-Büchern hat der Kommissar nicht nur seine Probleme im Dienst, sondern auch im Privaten: Er plagt sich mit Schwester und Bruder herum und vor allem mit der geldgierigen Noch-Ehefrau und einer drohenden Scheidung.

Wie in vielen nordischen Krimis stehen Charakter, Eigenwilligkeit und Lebensverdruss des Kommissars im Mittelpunkt: Sie sind der personifizierte Weltuntergang, glauben weder an Gott noch die Menschen noch an sich selbst – und sind mit dieser Weltsicht prädestiniert, selbst die schwierigsten Fälle zu lösen.

Doch während bei den meisten Nord-Kommissaren, wie Mankells „Wallander“, eine stolze, auf Mitleid zielende Melancholie herrscht, ist Carl Morck ein flapsiger Menschenfeind mit verletzenden Sprüchen und flapsigem Benehmen. Ein pubertierender Jüngling könnte nicht schlimmer sein.

Ein Beispiel aus „Erwartung“, dem neuen, dem fünften Carl-Morck-Roman:

„Kopfschüttelnd sah sich Morck in der Kantine um. Was sollte das denn werden? War er in einen Kindergeburtstag geraten oder hatte einer der Kollegen zum soundsovielten Mal geheiratet – in der bescheuerten Annahme, dass ihn diesmal das irdische Paradies erwartete?“

Wer diesen Ton mag, liest die Krimis mit Begeisterung. Wer ihn nicht mag, langweilt sich. Aber Hunderttausende von begeisterten Lesern können nicht irren.

Worum geht es im neuen, dem fünften Roman, in „Erwartung“:

Die Mafia hat Kopenhagen im Griff, die Politik ebenso wie die Finanzwelt. Zwischen die Fronten gerät der fünfzehnjährige Marco, ein berufsmäßiger Bettler, der vor dem brutalen Anführer flieht, eine Männerleiche findet und um sein Leben fürchten muss.

Marco fühlt sich auch nicht wohl in dieser kalten Welt – in dieser typischen dänischen Krimi-Welt, die so gar nichts gemein hat mit den Dänen, die wir im Strand-Urlaub auf Bornholm kennenlernen, mit denen sich gut feiern lässt und die so herrlich unkompliziert sind. Bei Olsen sind die Dänen anders:

„Die Dänen hielten sich lieber zurück, wenn es darauf ankam, das wusste Marco aus Erfahrung. Wie oft hätte er selbst damals aufgehalten werden können, wenn die Hilferufe der Überfallenen durch die Straßen hallten. Doch dergleichen war nie passiert. Damals hatte ihm diese Passivität Sicherheit verliehen, heute machte sie ihn nervös.“

Den Leser macht es nicht nervös.

 

 

THÜRINGER ALLGEMEINE – Ausgabe Erfurt, 18.01.2014, S. 31 / Beilage

Hallo Welt!

1 Kommentar / Geschrieben am 19. Januar 2014 von raphael in Bücher, Krimis.

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