Wie können wir das Abendland retten? Weihnachts-Leitartikel mit Pegida-Klängen

Geschrieben am 24. Dezember 2014 von Paul-Josef Raue in Essays und Kommentare, Gott, Glaube, Religion.

Sprechen wir also über das Abendland – jenes Land, das auf keiner Karte verzeichnet ist, das aber an jedem Montag von Demonstranten in Dresden gerettet wird. Was ist das Abendland?

Die Wiege des Abendlands stand vor zweitausend Jahren in Bethlehem, einem kleinen Ort im Morgenland. Heute gehört die Stadt, so groß wie das thüringische Arnstadt, zum Palästinensischen Autonomiegebiet; auf Arabisch heißt sie Bait Lahm, in ihr stehen hundert Moscheen und die Geburtskirche Jesu, ein Touristen-Magnet.

In Bethlehem mischen sich die Kulturen des Abendlands und des Morgenlands nicht nur friedlich, erst recht nicht im benachbarten Jerusalem, durch eine acht Meter hohe Mauer und eine Grenz-Kontrolle getrennt von der Geburtsstadt Jesu. Also – was ist das Abendland, das christliche? Was retten die Dresdener in ihrer Stadt, in der nur wenige Christen leben, zumindest dem Steuer-Register nach? Sie wollen offenbar etwas Existenzielles retten; dann aber sollten wir erkunden, was wir retten wollen.

Die Geburt Christi ist die Geburtsstunde des Abendlands, wenn wir darunter keine Himmelsrichtung verstehen – also die Abend-Regionen, in denen die Sonne untergeht -, sondern eine Werte-Gemeinschaft, die über zwei Jahrtausende wuchs, als einzige Institution alle Stürme überstand und die erste Globalisierung schuf, lange vor Google und Coca-Cola.

Der Gründungs-Mythos des Abendlands ist die Geschichte von der Geburt Jesu: Zwei junge Leute kommen in die Heimat der Väter zurück, werden wie Fremde behandelt, sind obdachlos und müssen ihr Kind in ärmlichen Verhältnissen zur Welt bringen. Kaum ist das Kind geboren, beginnt die Verfolgung: Die Familie muss ins Exil nach Ägypten fliehen, weil Herodes, der Mächtige im Land, das Kind töten will. Am Beginn steht die Machtfrage: Herodes vermutet einen Konkurrenten im Kampf um die Königswürde und will den Knaben ermorden.

Das Abendland hat zweitausend Jahre später noch dieselben Probleme: Machtkämpfe, Verfolgung, Flüchtlinge und Millionen Menschen, die machtlos sind und leiden. Wen wollen die Pegida-Demonstranten in Dresden retten? Stehen sie in der Tradition des Herodes? Oder der Bürger von Bethlehem, die ihre Häuser abschlossen und die Fremden aussperrten? Oder in der Tradition der Krippe?

Nun mag mancher Protest der „Patriotischen Europäer“ durchaus berechtigt sein, mag ein Weckruf sein für Politiker – doch die Retter des Abendlands sind die Demonstranten nicht. Mit der Abschottung Europas, erst recht nicht mit der Abschottung Deutschlands, retten wir weder uns noch die Verdammten dieser Erde.

Die Rettung des Abendlands ist aller Mühe wert, also die Rettung unserer Werte, der Menschenrechte und der Demokratie. Schauen wir kurz zurück: Die Geschichte des Abendlands war immer auch eine Geschichte der Verirrungen, der Kriege und der Machtgier – von den Kreuzzügen bis zur Inquisition und Ausbeutung der Armen; im Gegenzug brachte sie auch immer wieder Licht in das Dunkel – Aufklärung eben, die Entdeckung der Menschenwürde und mit der Demokratie die beste Kontrolle von Macht und Arroganz, die es je gegeben hat.

Doch rennt das Abendland wieder in die falsche Richtung: Geld und Gier – zum Beispiel – sind dabei, unsere Werte zu zertrümmern; global herrschende Unternehmen kontrollieren unser Leben; Terroristen bauen im Namen der Religion die Herrschaft des Bösen aus.

„Diese Wirtschaft tötet“, sagt Franziskus in Rom, der Nachfolger des Mannes, der seinen Reichtum als Ballast empfand und nach der Alternative suchte. Franziskus reiste, als er an die Macht kam, zuerst nach Lampedusa, wo die Vertriebenen stranden.

Wie können wir das Abendland retten? Welche Werte müssen wir retten? Wie viele Menschen – und welche – wollen wir retten? Und sind wir bereit, uns selber zu verändern und notfalls zu retten? Wären das nicht sinnvolle Fragen in der Ruhe des Festes und im Licht der Kerzen?

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Thüringer Allgemeine, 24. Dezember 2014

2 Kommentare

  • Sehr geehrter Herr Raue,
    was macht Sie so sicher, dass die Wiege des Abendlands in Bethlehem stand? Wo befand sich dann früher oder später die Wiege des Morgenlands, aus dem angeblich Könige anrückten, um dem Gotteskindlein in der Krippe zu huldigen? Wozu zählen Sie dann die USA, Lateinamerika, China, Japan, Neuseeland, Russland? Sich auf einen christlich geprägten „Gründungsmythos“ des Abendlands zu beziehen, führt ebenso auf geistige Abwege wie der Versuch, zwischen Werten zu unterscheiden, die notfalls zu retten sind, andere eben nicht. Werte sind halt wie Werte unteilbar. So sehen dies Islamisten und Demokraten. In einem sehr abstrakten Leitartikel folgen Sie „Pegida-Klängen“, die ebenfalls tönen, tuten und blasen, das „Abendland“ müsse wie einst am Lech und vor Wien gerettet werden. Ohne Änderung der sozialen Verhältnisse, die auf der ganzen Welt ein menschenwürdiges Leben ermöglichen, wird man die Gespenster und Todesreiter, jedweder Gesellschaft inhärent, nicht los. Deren Wiege des Wahnsinns steht überall.

    • Lieber Herr Kretschmer,
      ich nehme das „Abendland“ nicht als geographischen Begriff, sondern nutze ihn für eine Wertegemeinschaft. So ist in der Tat geographisch das Morgenland der Ursprung – aber das ist eine lange Geschichte mit vielen Geschichten: Weihrauchstraße, Paulus und die Türkei, erste christliche Kirche in Armenien, Augustinus und Nordafrika und das Erbe der griechischen Philosophen usw.
      Die Gründung des Abendlands ist christlich, wobei wir uns über all die Facetten, Wege und Irrwege des Christentums lange streiten können, über das, was die Jahrhunderte unter Gott verstanden. Und: Die Geschichte zeigt, wie schnell Werte zu teilen sind.
      Was sind akzeptable soziale Verhältnisse? Was ist ein menschenwürdiges Leben? Die Antworten kommen ohne „Abendland“ nicht aus.

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